In der DGUV Information 209-093 „Qualifizierung für Arbeiten an Fahrzeugen mit Hochvoltsystemen“ werden Qualifizierungsstufen für verschiedene Tätigkeiten an HV-Systemen beschrieben. Zudem werden Anhaltspunkte und Entscheidungshilfen gegeben, mit deren Hilfe der Qualifizierungsbedarf von Mitarbeitern ermittelt werden kann.
In der DGUV I 209-093, wie auch in den vorher gültigen Dokumenten DGUV I 200-005 und BGI 8686 wird zwischen Arbeiten an Vorserienfahrzeugen im Qualifikationspfad E das heißt vor Produktionsstart / SoP (Qualifizierungsbedarf in Forschung, Entwicklung und Produktion) sowie Arbeiten an Serienfahrzeugen im Qualifikationspfad S (Qualifizierungsbedarf in Servicewerkstätten) unterschieden.
Wer benötigt welche Qualifikation?
Die Abgrenzung von Vorserie zu Serie wird in der Begriffserklärung der DGUV I 209-093 über den Zeitpunkt des Produktionsstarts (SoP) klar definiert:
Start of Production (SoP) bezeichnet den Beginn der Serienproduktion, bei dem Fahrzeuge nach standardisierten Arbeitsverfahren gefertigt werden. Die Entwicklungsphase sowie die Prototyp- oder Vorserienfertigung sind zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen.
Für die Einteilung des Qualifikationsbedarfs benötigt man also eine genaue Definition der Begriffe Serienfahrzeuge und Entwicklungs- bzw. Vorserienfahrzeuge.
Merkmale eines Serienfahrzeugs:
- (EU-)Typgenehmigung bzw. Homologation mit Konformitätszertifikat (CoC)
- Erfüllung aller Anforderungen der UN ECE R-100 und ISO 6469
- Für den Verkauf an Endkunden bestimmt
- Keine signifikanten technischen oder konstruktiven Unterschiede innerhalb einer Modellreihe
- Standardisierte Hardware, Software und Prozesse in der Produktion und Wartung
- Gleichbleibende Qualität durch standardisierte Fertigung
- Sicherheitsfunktionen durch reale Crashversuche bestätigt
- Verfügbare Dokumentationen: Betriebsanleitungen, Reparaturhandbücher, Rettungsdokumente
Sonderfall Kleinserie:
- Kleinseriengenehmigung durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA)
- Begrenzte Stückzahl
Merkmale von Entwicklungsfahrzeugen:
- Betrieb ohne Typgenehmigung (z. B. auf Testgeländen oder mit KBA-Erprobungsgenehmigung im Straßenverkehr)
- Ausstattung mit Sensorik, Messtechnik und Datenloggern zur Analyse der Fahrzeugdaten
- Modifikationen (z. B. durch andere oder fremde HV-Komponenten), durch die die ursprüngliche Typgenehmigung erlischt
- Betrieb von HV-Systemen, -Teilsystemen oder Komponenten auf Prüfständen
Alles eindeutig geregelt? Leider nicht ganz so einfach.
In der DGUV I 209-093, Seite 28, findet sich ein ergänzender Hinweis:
„Wird während des Produktentstehungsprozesses festgestellt, dass Komponenten verbaut werden, deren Sicherheitsstandards denen der Serienproduktion entsprechen, kann die Zuordnung zu einer Qualifizierung nach SoP erfolgen. Die Festlegung und Entscheidung darüber trifft die fachkundig leitende Person.“
Dieser Abschnitt relativiert die vorangegangene Abgrenzung. So kann z. B. ein Fahrzeughersteller für Serienfahrzeuge qualifiziertes Personal im Rahmen von Prozessvorläufern, Ramp-up-Phasen oder zur Einarbeitung weiterer Mitarbeiter bei der Fertigung seriennaher Fahrzeuge vor dem SoP einsetzen.
Diese Entscheidung ist allerdings von der Fachkundigen Leitung HV im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung zu treffen und nachvollziehbar zu dokumentieren. Da sich gewohnte Abläufe ändern können, muss eine gezielte Unterweisung der Mitarbeiter erfolgen.
Was aber sind Komponenten, deren Sicherheitsstandards denen der Serienproduktion entsprechen?
Die genannten Sicherheitsstandards in der Serienproduktion beziehen sich auf bewährte Maßnahmen zur elektrischen Sicherheit. Einen Anhaltspunkt dafür bietet die Definition von „HV-eigensicheres Fahrzeug“ aus den mittlerweile obsoleten Dokumenten DGUV I 200-005 und BGI 8686:
HV-eigensicheres Fahrzeug
bedeutet, dass durch technische Maßnahmen am Fahrzeug ein vollständiger Berührungs- und Lichtbogenschutz gegenüber dem HV-System gewährleistet ist.
Dies wird insbesondere erreicht durch:
- Technisch sichere Abschaltung des HV-Systems und automatische Entladung möglicher Energiespeicher vor Erreichen unter Spannung stehender Teile;
- Kabelverbindungen über Stecker in lichtbogensicherer Ausführung und nicht über Schraubverbindungen;
- Sichere Abschaltung bei Entfernen von Abdeckungen des HV-Systems.
Diese Forderungen stimmen mit den Sicherheitsanforderungen aus Absatz 5 der UN ECE R-100 überein. Ergänzend zu den Anforderungen der ECE R-100 können auch weitere Kriterien aus Normen wie ISO 6469 zur Beurteilung der Sicherheitsstandards herangezogen werden:
- Anzeige HV-relevanter Status- und Fehlermeldungen
- Anzeige von Fahrbereitschaft und Fahrtrichtung
- Abschaltung des HV-Systems im Crashfall oder bei Airbagauslösung
- Isolationsüberwachung mit Anzeige oder Einwirkung auf das HV-System
- Aktive und passive HV-Zwischenkreisentladung
- Verriegelung des Ladesteckers während des Ladevorgangs
- Fahrbereitschaftssperre bei gestecktem Ladestecker oder aktivierter Lenkradsperre
Elektroumbauten (Retrofit)
Ein Sonderfall ist der Umbau von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor auf Elektroantrieb. Durch den Einbau eines HV-Systems in ein ursprünglich nicht dafür vorgesehenes Fahrzeug erlischt die Typgenehmigung. Dadurch wird eine Einzelabnahme und Erstellung einer Einzelbetriebserlaubnis durch eine Prüforganisation gemäß VdTÜV Merkblatt 746 erforderlich.
Für die Festlegung des Qualifizierungsbedarfs ist auch hier die Fachkundige Leitung HV zuständig.
Folgende Fragestellungen sind in die Entscheidung einzubeziehen:
- Wurde der komplette HV-Antriebsstrang eines Spenderfahrzeugs inklusive der originalen Steuer- und Sicherheitselektronik verbaut?
- Erfolgt der Betrieb des HV-Systems über eine Restbussimulation als Steuerelektronik zwischen „altem Verbrenner“ und „neuem HV-System“ (Dem Fahrzeug werden die erwarteten Signale eines Verbrenners eingespielt, dem HV-System wird simuliert, dass es weiterhin in einem Elektrofahrzeug verbaut ist.)
- Wurde die Restbussimulation oder Steuerelektronik nach ASIL D Standard entwickelt und implementiert?
- Wurden standardisierte „off-the-shelf“ Komponenten, die eine ABE oder Herstellerfreigabe für den Betrieb und die Kommunikation untereinander besitzen verwendet?
Fazit
Die Einteilung des Qualifizierungsbedarfs in die Kategorien „Arbeiten an Serienfahrzeugen“ und „Arbeiten an Fahrzeugen vor SoP“ ist in vielen Fällen klar möglich. Bei Sonderfällen wie z. B. Retrofit-Umbauten oder seriennahen Entwicklungsfahrzeugen stoßen pauschale Einstufungen schnell an ihre Grenzen. Hier sind fundierte Einzelfallbewertungen und eine klare Dokumentatione durch die Fachkundige Leitung HV erforderlich.
Genau hier setzen unsere Dienstleistungen an.
Als Partner mit fundierter Fachkompetenz im Bereich Hochvolt-Sicherheit bieten wir Ihnen:
- Beratung zur Gefährdungsbeurteilung von HV-Arbeitsplätzen und bei Arbeiten an Prüfständen, Prototypen oder Sonderfahrzeugen.
- Unterstützung bei der Festlegung des Qualifizierungsbedarfs Ihrer Mitarbeiter gemäß DGUV I 209-093
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- Begleitung bei Aufbau und Dokumentation sicherer Arbeitsprozesse im Umgang mit Hochvoltsystemen
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Daniel Ettenhuber
Bei einer Umstellung auf Elektromobilität sind eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen. Hier gibt es immer die aktuelle News, sowie wichtige Infos zur E-Mobilität.
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